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Unterwegs in Melanesien: Ruavatu

Eines der von missio unterstützten Projekte auf der Hauptinsel Guadalcanal liegt im Süden und erfordert eine mehr als zwei-stündige Fahrt durch den Dschungel – außerhalb jeglicher Zivilisation.

Während der Geist in einen Trance-Zustand mit dem monotonen Quietschen der Stoßfedern gerät, zieht an mir die Landschaft wie ein Bilderbuch vorbei. Je weiter wir uns von Honiara wegbewegen, desto mehr erhöht sich die entgegengesetzte Proportionalität des Verhältnisses von Hütten und Schlaglöchern. Einfach gesagt: Hütten werden kleiner und Schlaglöcher größer. Nun erkenne ich durch die Scheiben der Beifahrerseite die Gründe für die zunehmende Landflucht der Bevölkerung immer mehr. Auf unserem Weg ins Dickicht erklärt mir Sister Mary, dass viele Familien ihren Kindern die Schulbildung nicht bezahlen können, was wiederum dem fehlenden Sozialsystem anzurechnen ist. Die Schulgebühren sind für die meisten Bauern oder Subsitenzfarmer nicht aufzubringen, so dass es oft für die Mädchen nach der 7. oder 8. Klasse heisst: Ran an die Arbeit! Der typische Tag eines Mädchens auf den Inseln beginnt früh morgens mit Hausarbeit, bevor ein sehr langer Schulweg ansteht, da nicht jedes Dorf über eine Grundschule und schon gar nicht über eine weiterführende Schule verfügt. Nach einem langen Tag in der Schule  und einem noch längeren Rückweg –  steht für die Kleine wieder Hausarbeit an, denn die Mutter kann bei den großen Familien jede helfende Hand gebrauchen. Durchschnittlich verbringt ein Mädchen in dieser Region 18 Stunden mit Hausarbeit, wohingegen der globale Durchschnitt mit 2,5 Stunden um das siebenfach überboten wird. Außerdem ist das Rollenbild von Frauen mit dafür verantwortlich, dass die jungen Damen als erstes die Bildungsstätten verlassen müssen, da der männliche Nachwuchs ungeachtet der geistigen Kapazitäten oder Motivation als höheres Gut eingestuft wird und somit am meisten gefördert wird. Die kirchlich geleiteten und finanziell gesicherten Schulen stehen an der einzigen (!) Hauptstraße, die von Norden nach Süden die Ost-Küste der Insel entlangführt. Die verschiedenen Denominationen versuchen ihr bestes den umliegenden Dörfern und Kindern die bestmögliche Ausbildung zu geben und sie für das zukünftige Leben vorzubereiten und ihnen vor allem „Oppurtunities“ (Möglichkeiten) zu geben.

Foto: Sebastian Beyer / missio
Typisches Haus am Straßenrand Richtung Ruavatu – Die Salomonen gehören zu den Ländern mit dem niedrigsten Human Development Index (HDI) der Welt.

Mittlerweile haben wir die letzte Brücke auf dem Weg in den Wald überquert und verlangen dem Fahrwerk alles ab. Niemals hätte ich gedacht, dass ein Kombi tatsächlich über die Fähigkeiten eines Allrad-Jeeps verfügt und dermaßen viel einstecken kann. Oft stelle ich mir vor, dass das brutale Aufsetzen des Wagens ziemlich ähnlich klingen muss, wie ein Segelschiff, das an den Klippen von Dover in einer sturmgepeitschten Nacht zerschellt. Die Elemente reißen an der B-Säule des Autos und die Kolben schreien die Symphonie der Vernichtung, die dem Fahrer jedoch nur ein müdes Lächeln entlocken können. 

Mittlerweile ändert sich die Vegetation von einem „grünen Wald“ hin zu einem unendlich groß erscheinenden Palmenwald, der die nahegelegene Palmöl-Raffinerie mit weiterem Rohstoff versorgt. Selbst aus dem Flugzeug betrachtet sieht man die kommerzielle Nutzung dieser Nutzpflanze und kann sich aus mehreren Kilometern Höhe sein eigenes Bild über das Abroden des natürlichen Urwalds und das ausufernde Ausmaß dieses Industriezweigs machen.

Nicht nur, dass die natürliche Vegetation des Urwalds gebrandrodet wird und somit für immer vernichtet ist, auch zu beachten gilt, dass Monokulturen anfälliger für Parasitenbefall sind. Wirtschaftlich betrachtet machen sich die umliegenden „communities“ abhängig von der Raffinerie und sind finanziell anfälliger für schwankende Weltmarktpreise. Da diese Raffinerien der größte Arbeitgeber der Umgebung sind, haben sie politischen Einfluss und bestimmen die Gehälter. Selbst wenn einmal die Nutzung der Plantagen aufgegeben wird, bleibt der Bevölkerung nicht mehr als eine brache Steppe, die vom übertriebenen Anbau nicht wirklich als nutzbarer Boden unterhalten werden kann.

Nachdem nun zweieinhalb Stunden lang mein medizinischer Standpunkt dem einer Gehirnerschütterung aufgrund der „Straßen“-Verhältnisse gleicht, erblicken wir endlich die ersten Hütten von Ruavatu. Direkt am Meer gelegen und auf ungefähr 0,5m über dem Meeresspiegel angesiedelt, liegt das kleine und verschlafene Dorf, das den Mittelpunkt der umliegenden Region darstellt.

Foto: Sebastian Beyer / missio
Blick aus dem „priest house“ von Ruavatu. Hinter der Baumreihe beginnt der Pazifische Ozean.

Auch hier springen einem die Erinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg direkt ins Auge. In mitten der Hütten steht ein Denkmal mit den Grabsteinen der Missionare, die bei Ankunft der Japaner ermordet wurden. Neben den Missionaren und Priestern liegen dort auch die Gräber der Nonnen. Einige Dekaden nach dem Überfall und dem Massaker sitze ich umringt von mehreren herzlich lieben und neugierigen Nonnen um einen Tisch und versuche der Diskussion zu folgen, die durch das Rauschen des Meeres ständig übertönt wird.

Zwischen Flut und Hühnerbeinchen erzählen die Nonnen und der Dorfvorstand „Mr. Eric“ (Bruder von Sister Mary) von den Problemen und den Herausforderungen dieser Siedlung am Rande des Ozeans. Ruavatu erscheint mir eher wie ein kleines Dorf in der Eifel oder in Mecklenburg-Vorpommern, doch der Anschein trügt. Dieses Fleckchen Erde ist der Mittelpunkt der Gemeinden, die teilweise zwei Tagesmärsche von hier entfernt, bis zu den Füßen des Bergmassivs im Landesinneren, liegen. Alles in allem umfasst das pastorale Gebiet Ruavatus 10.000 Personen, die sich wegen der Lebensumstände und Entfernungen nur zu besonderen Gelegenheiten zusammenfinden. Meistens muss sich ein Priester auf den weiten Weg in die „rural areas“ (umliegende Gebiete) machen und ist somit für einige Tage, oft sogar eine Woche nicht erreichbar. Die Netzabdeckung auf den Salomonen ist sehr schlecht. Wer trotzdem nicht auf einen Internetzugang verzichten kann ist gezwungen per Satellitenschüssel einen 500 Solomon-Dollar teuren (56€) Zugang zu erwerben. Das ist meist nur Firmen und Institutionen vorbehalten, wenn man bedenkt, dass ein durchschnittliches Gehalt 160€ beträgt. Hinzu kommen noch die Wetterverhältnisse, die dazu führen, dass bei Regen oder Wolken die Verbindung per Satellit unmöglich ist und jeder Regen quasi einen Abriss zur Außenwelt darstellt.

Mr. Eric erläutert seine Ansicht über die Herausforderungen Ruavatus. Er sieht ein aufkommendes Unbehagen im Kopieren des „western lifestyles“ in seiner Gemeinschaft. Durch die immer präsenteren Smartphones erhalten Jugendliche einerseits wichtige Informationen und Neuigkeiten aus aller Welt und können sich öfter ein eigenes Bild machen, jedoch ist der Einfluss von westlichen Lebensstilen Gift für das traditionelle Leben in den Dörfern. Viele Jugendliche möchten diesen „konsumorientierten und selbstdarstellerischen“ Vorbildern aus dem Internet folgen und sehen ihre Zukunft nicht mehr im Umfeld des Dorfes. Wenn es Familien möglich ist, schicken sie ihre Kinder auf weiterführende Schulen nach Honiara, in der Hoffnung ihre Kinder mögen mit dem erworbenen Wissen zurückkehren und ihr Umfeld bereichern. Doch der „brain drain“, also die Abwanderung der gebildeten Jugend, führt dazu, dass genau die zukünftigen „leader“ mit guter Ausbildung entweder in der Hauptstadt bleiben wollen, um dort Karriere zu machen oder sogar ins Ausland abwandern. Dies führt zu demographischen und sozialen Ungleichgewichten in ihren Heimatdörfern.

Foto: missio / Sebastian Beyer
missio unterstützt ein Projekt in der Dorfmitte: Das neue „parish house“ in Ruavatu. Dies wird das neue Herz der Gemeinde und der Umgebung.

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