Im Hamsterrad des Alltags und in der Sorge um andere bleiben eigene Bedürfnisse schnell auf der Strecke. Jutta Feldmann und Michael Kinnen diskutieren darüber, wie es gelingen kann, ein gutes Leben zu führen – zwischen Selbstfürsorge und Verantwortung für die Mitmenschen.
Frau Feldmann, wie haben Sie die heiße Phase der Familienzeit in Erinnerung?
FELDMANN: Als die Kinder klein waren, bestand der meiste Teil meines Lebens tatsächlich aus Sorge für andere. Da mein erster Mann Alkoholiker war, habe ich mich nicht nur um die Kinder, sondern auch um das Familienleben, Haushalt, Garten und Menschen aus meiner Ursprungsfamilie gekümmert. Gleichzeitig habe ich in Teilzeit meinen Beruf ausgeübt, weil ich meinen Beamtenstatus behalten wollte. KINNEN: Respekt! FELDMANN: Lange habe ich das nicht hinterfragt, weil ich immer eine heile Familie haben wollte – meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zwölf war. Also war und bin ich bereit, dafür viel Arbeit zu investieren. Es gibt ja auch viele schöne Momente: Am Leben der Kinder teilzuhaben und die Welt nochmal mit anderen Augen zu sehen, ist bereichernd.
Herr Kinnen, vor eineinhalb Jahren haben Sie Ihre Festanstellung gekündigt, warum?
KINNEN: Ich wollte frei sein, das Leben zu genießen. Ich habe erlebt, dass Menschen in meinem Umkreis, die sich auf ihre Rente gefreut haben, krank geworden und gestorben sind. Da habe ich mich gefragt: Auf was warte ich eigentlich? Meine Frau und ich waren beide voll berufstätig, unsere Tochter hatte ihr Abitur gemacht, es war ein natürlicher Einschnitt. FELDMANN: Haben Sie sich vorher unfrei gefühlt? KINNEN: Zumindest fremdbestimmter.
Gönnen Sie sich dieses freiere Leben auf Kosten Ihrer Familie und der Gesellschaft?
KINNEN: Als ich die Stelle gekündigt habe, war mir wichtig, dass ich mich nicht arbeitslos melde und von der Arbeitslosenversicherung lebe. Es ist eine selbstverantwortete Entscheidung, nicht mehr abhängig beschäftigt zu sein. Als Journalist bin ich freiberuflich tätig. Ich habe den Luxus, dass ich nicht davon leben muss, und dafür bin ich sehr dankbar. In Absprache mit meiner Familie habe ich mir das Ziel gesetzt, dass ich die laufenden Kosten an meinem Zweitwohnsitz Berlin abdecken kann. Ich mache nun Beiträge, die mich wirklich interessieren, und nicht, weil sie im Redaktionsplan stehen. Jemand sagte mal zu mir, ich sei der dazuverdienende Ehemann. Das fand ich gut, auch weil es Rollenklischees aufbricht. FELDMANN: Also ganz rauszugehen aus dem Berufsleben und zu sagen, ich schau mal, was kommt, wäre für mich zu schwer gewesen. Aber nach dem Tod meines ersten Mannes, um den ich mich auch nach unserer Trennung noch gekümmert habe, habe ich ein Sabbatjahr gemacht. Damals hatte ich so viel an den Hacken, dass ich nicht mehr wusste, wo oben und unten ist. Ich habe gesagt, ich muss was für mich tun, sonst gehe ich kaputt. Das war wie ein Befreiungsschlag.
Viele sind mit den Glaubenssätzen aufgewachsen: Du musst fleißig und pflichtbewusst sein, Leistung bringen. Sie auch?
KINNEN: Ich komme aus einer klassischen Beamtenfamilie, ich kenne diese Botschaften. Aber ich will auf andere Weise diese Pflicht oder Leistung erbringen – indem ich meine Tätigkeiten mit Sinn fülle. Wenn man mit sich selbst im Reinen und zufrieden ist, dann tut man der Gesellschaft im Ganzen etwas Gutes. Ich habe jetzt Zeit für etwas, nicht um etwas zu erreichen. Vielleicht setze ich mich mit meinem Ehrenamt bei der Berliner Tafel konkreter für Menschenwürde ein, als wenn ich über Menschenrechtsverletzungen einen Artikel schreibe. FELDMANN: Das Pflichtbewusstsein ist auch bei mir da. Ich arbeite mit Schülerinnen und Schülern, die aufgrund psychischer Erkrankungen oder sozialer Schwierigkeiten keinen Schulabschluss haben. Ich finde meine Arbeit gesellschaftlich sehr wichtig, um diesen benachteiligten Menschen noch eine Chance zu geben. Aber als das Sabbatjahr begann, hatte ich keinerlei Skrupel. Die Auszeit war wichtig, danach bin ich gern wieder eingestiegen.
Wie hat die Auszeit Sie verändert?
FELDMANN: Früher habe ich mir die Schicksale meiner Schülerinnen und Schüler sehr zu Herzen gehen lassen. Heute kann ich mich besser abgrenzen und auch meine Privatsphäre genießen. Die Welt dreht sich auch ohne mich weiter. Man sagt es immer so schön dahin, aber man muss es erst selbst merken: Nur wenn du gut zu dir bist, kannst du gut zu anderen sein. Ich finde, das Pflichterfüllen geht besser, wenn man ein Stück weit die eigene Freiheit gefunden hat und leben kann. KINNEN: Absolute Zustimmung! „Gönne dich dir selbst“, schreibt Bernhard von Clairvaux an seinen früheren Schüler Papst Eugen III. Das ist für mich der Gipfelsatz in dem schönen Briefwechsel der beiden. Wenn man zu den Menschen gut sein will, muss man auch zu sich selbst gut sein. Denn man ist auch ein Mensch.
Was gönnen Sie sich neben mehr Freiheit und sinnerfüllter Tätigkeit sonst noch?
FELDMANN: Dinge sind nicht das, was mich erfüllt. Wie viel Haus, wie viel Auto brauchst du? In meinem Sabbatjahr habe ich meiner Nachbarin geholfen, das Haus ihres Schwiegervaters auszuräumen. Eine Freundin habe ich bei der Pflege ihres schwerkranken Mannes unterstützt. Das war für mich Luxus. KINNEN: Bei den Ehrenamtlichen der Tafel lerne ich die unterschiedlichsten Menschen kennen: den ehemaligen Chefarzt, die Orientierung suchenden Studierenden, aber auch Menschen, die vom Amt geschickt werden und Sozialstunden leisten. Ihnen zu begegnen und dabei auch mit eigenen Vorurteilen konfrontiert zu werden: Das ist unbezahlbar!
Welche Rolle spielen die Erwartungen anderer an Sie?
KINNEN: Mir ist es zunächst schwergefallen, meinen Schritt nach außen hin zu begründen. Oft misst man ja jemanden daran, wie erfolgreich er beruflich ist und welche Titel er hat. Wenn mich Leute mit Blick auf meine Situation kritisch fragen: „Kann man denn davon leben?“, sage ich: „Ja, es reicht finanziell und ist auch sonst ein erfülltes Leben, weil ich weniger brauche, anders lebe.“ Ich muss nicht ständig in Urlaub fahren. Der Sonnenschein am See in Berlin ist auch schön.
Was wollen Sie Jüngeren mitgeben?
FELDMANN: Ich sage meinen Schülerinnen und Schülern, dass sie sich anstrengen müssen, um einen Abschluss zu schaffen. Es ist mir wichtig, dass man sich finanziell versorgen kann. Dass man nicht abhängig wird von anderen. Nicht jede Arbeit muss Spaß machen. Auch Schule muss nicht unbedingt Spaß machen. Ich muss sie trotzdem machen. Manche Sachen in der Gesellschaft müssen einfach sein. Irgendwo muss das Geld herkommen, von dem wir leben wollen. Die Kunst ist, bei alldem einen Ausgleich zu schaffen.
Interview: Eva-Maria Werner