Von Eva-Maria Werner
Angenommen sein, sich sicher und geborgen fühlen: Danach sehnt sich jeder Mensch. Was kann uns in unruhigen Zeiten ein Zuhause sein?
Eiskalt und finster ist es monatelang rund um die Neumayer-Forschungsstation in der Antarktis, dem Arbeitsplatz von Thomas Schenk. Der Ingenieur ist technischer Leiter der Polarstation, 13 000 Kilometer von seinem Heimatdorf in der Schweiz entfernt. Schneestürme, Temperaturen bis zu minus 50 Grad Celsius und keine Chance, den unwirtlichen Ort vorzeitig zu verlassen: Blickt jemand, der dieses Leben für 14 Monate gewählt hat, aus der Ferne anders auf seine Heimat? Schenk überlegt nicht lange: „Absolut! Die Natur hier ist wunderschön, doch es fehlen die Kontraste. Ich werde die grünen Wälder und Wiesen, die geschwungenen Hügel in der Abendsonne und die Pflanzen- und Tierwelt meiner Heimat nie wieder als selbstverständlich betrachten. Hier wird mir schmerzlich bewusst, was ich vermisse: Vogelgezwitscher, Kinderlachen, barfuß durchs Gras laufen.“ Viele Menschen verbinden mit „Heimat“ den Ort ihrer Kindheit, an dem sie – im besten Fall – das erfahren durften, was alle Menschen zum Leben brauchen: Geborgenheit, Urvertrauen, Nähe. Unzählige Erinnerungen sind daran geknüpft: die Stimme der Mutter, ein bestimmter Geruch, Weihnachten in der Dorfkirche. Manche bleiben für immer dort und schlagen Wurzeln. Für andere wird die Heimat zum Sprungbrett, um sich freizuschwimmen, getrieben von der Lust, fremde Welten zu entdecken.
Die Heimat und die Fremde, sie stehen für zwei Ursehnsüchte des Menschen: Ankommen und Sicherheit erfahren sowie Freiheit und Herausforderungen suchen. „Die Abenteuerlust und die extreme Natur am Ende der Welt reizten mich“, begründet Thomas Schenk seine Entscheidung, am einsamsten Ort der Welt zu arbeiten. „Über mehrere Monate auf engem Raum in einem kleinen Team die Abgeschiedenheit zu meistern und dabei eine Vielzahl technischer Maschinen und komplexer Systeme am Leben zu halten, das klang nach einem Job für mich.“
Auch junge Menschen, die mit dem Programm „Mitleben auf Zeit“ (MaZ) einen Dienst im Ausland leisten, brechen auf, um Neues zu entdecken. Maren Bawidamann, die bei den Comboni-Missionaren in Uganda war, sagt: „Ich wollte meinen Horizont erweitern, indem ich ein anderes Land, dessen Menschen und Kultur kennenlerne.“ Nach ihrer Rückkehr sagt die 22-Jährige: „Mir kommt Deutschland wie eine Konsumwelt vor, in der wir viel mehr besitzen, als wir brauchen. In Uganda habe ich die ,Schönheit in der Einfachheit‘ kennengelernt.“
Während Arbeitsnomaden, MaZ-ler und Touristen freiwillig ihre Heimat für eine Zeitlang verlassen, werden andere dazu gezwungen – durch Krieg, Verfolgung oder Verlust ihrer Lebensgrundlagen. Im April 2025 waren weltweit 122 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie nie zuvor. Manche sind jahrelang unterwegs, ohne irgendwo anzukommen und willkommen zu sein.
Mehr noch als den Ort ihrer Kindheit nennen Menschen Familie, Freunde und Lebenspartner, wenn sie gefragt werden, was Heimat für sie bedeutet. „Heimat hat immer etwas mit Beziehungen zu tun, mit der Erfahrung, dass es einem gut ergeht“, schreibt die Arenberger Dominikanerin Schwester Kerstin-Marie Berretz in einem Beitrag für die Katholische Nachrichtenagentur. „Als Mensch kann es einem aber nur dort gut ergehen, wo man mit anderen in Kontakt kommt, wo sich jemand für einen interessiert und Anteil nimmt am eigenen Leben.“
Gabriele Koch
„Meine Familie hat Königsberg in Ostpreußen im April 1940 verlassen. Grund war die frühzeitige Pensionierung meines Vaters, der als Professor Mitglied der Bekennenden Kirche war. Beim Blick in unsere leer geräumte Wohnung, in der nichts mehr außer meinem kleinen Bücherregal stand, fühlte ich den Verlust der Heimat. Während des Krieges lebten wir zunächst bei einer Tante in Offenbach. Wie schlimm die Nazizeit war, kann sich heute kaum noch jemand vorstellen. Selbst wir Kinder mussten zum Appell! Heimat bedeutet für mich ein Leben ohne solche Bedrängnis. Später, in Auerbach an der Bergstraße, bei einer anderen Tante, habe ich nochmal so etwas wie Heimat gefunden. Geborgenheit im Glauben und in einer Gemeinde, die uns freundlich aufgenommen hat. Von Königsberg habe ich oft geträumt. Aber erst mit 60 Jahren war ich wieder dort. Doch es fühlte sich nicht mehr heimatlich an – so vieles hatte sich verändert. Nur in der alten Wohnung nicht: Im Bad hingen noch die Kacheln, die meine Mutter ausgewählt hatte.
Alfred Ajuo Njini
Ich komme aus dem südlichen, englischsprachigen Teil Kameruns. Meine Heimat habe ich 2018 verlassen, weil mich brutale Beamte des Diktators Paul Biya aus Französisch-Kamerun verfolgt haben. Ich hatte das Tun seiner Regierung angeprangert, die uns Südkameruner unterdrückt, inhaftiert und foltert. Über Umwege kam ich nach Deutschland und habe einige Zeit bei den Comboni-Missionaren im Kirchenasyl gelebt, bis mein Asylantrag angenommen wurde. 2024 sind meine Frau und meine Kinder nachgekommen. Deutschland ist für mich mehr als eine Heimat geworden. Ich fühle mich hier angenommen, kann mich frei bewegen und mich mit anderen austauschen, ohne dass mein Leben bedroht ist. Ich habe Menschen gefunden, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Heimat ist für mich ein Ort, an dem man Frieden, Freiheit und Hoffnung hat. Ein Ort, wo man seine Meinung äußern kann, ohne unterdrückt und verfolgt zu werden.