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Fiona Tan, 58, zeigt ihre Filme und Videoinstallationen in Museen weltweit und bestückte bereits den Pavillon ihrer Wahlheimat Niederlande auf der Biennale in Venedig. In Alkmaar hat die in Indonesien geborene und in Australien aufgewachsene Kuünstlerin Europas größtes Kirchenfenster gestaltet.

Ein Porträt einer Frau mit unordentlichem Haar. Sie trägt ein weißes Hemd und hat einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Der Hintergrund ist neutral und unauffällig, was die Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht lenkt.
Fiona Tan ist Video- und Filmkünstlerin und lebt in Amsterdam.

Wie würden Sie das größte Kirchenfenster Europas beschreiben, das Sie gestaltet haben?

Für die 500 Jahre alte Sint-Laurenskerk in Alkmaar, die nicht mehr als Kirche genutzt wird, habe ich ein buntes, festliches Fenster geschaffen. Es handelt sich um das südliche Querhausfenster, sechs Meter breit, 23 Meter hoch. Wenn die Sonne durchscheint, erzeugt es ein Farbfeuerwerk: Es entstehen farbige Schatten, die in die Kirche an die Wände und auf den Boden projiziert werden.

Man kann also in Farben baden, wenn die Sonne scheint?

Auch ohne Sonnenschein ist es ein tolles Erlebnis. Nahe des Fensters steht ein Baum, dessen Bewegungen man durch das Glas sehen kann. Auch die vorbeiziehenden Wolken sorgen dafür, dass sich das Licht ständig ändert. Für mich ist das wie ein Film.

Was war der Anlass für die Fenstergestaltung?

Das 450-jährige Jubilaäum des sogenannten Alkmaar Ontzet, der Befreiung der Niederländer von der spanischen Besatzung 1573. Es war ein Widerstand, der von unten kam, das heißt, dass die Bürger selbst für ihre Freiheit kämpften. In Alkmaar wird das jedes Jahr groß gefeiert. Für die Jubilaäumsfeier 2023 habe ich das Fenster entworfen. Der Wunsch der Auftraggeber war, dass ich ein Kunstwerk für kommende Generationen schaffe, das Jahrhunderte überdauern kann. Ansonsten gab es keine Vorgaben – ich hatte bei der Gestaltung freie Hand. Mir war wichtig, dass es ein Fenster wird, das jeden ansprechen kann, unabhängig von der Religion.

Sind Sie gläubig?

Nein.

Inwiefern trifft in Ihrem Design Tradition auf Moderne?

Jedes einzelne Glasstück wurde per Hand geschnitten und mundgeblasen – wie schon vor Hunderten von Jahren. Ich finde es schön, dass ich mit dieser alten, traditionellen Technik gearbeitet habe, während das Design am Computer entstanden ist.

Als man Sie gefragt hat, ob Sie den Auftrag übernehmen, haben Sie gleich zugesagt?

Ich war mir nicht sofort sicher. Zuerst habe ich gedacht: Wie gehe ich das an? Weiß ich überhaupt, wie so etwas funktioniert? Ich habe ja noch nie zuvor mit Glas gearbeitet. Dann habe ich angefangen, mich mit Kirchenfenstern zu beschäftigen. Erst mit denen, die von zeitgenössischen Künstlern gestaltet wurden, dann mit historischen, mittelalterlichen. Das war nicht einfach, weil meine Recherche in die Corona-Zeit fiel, als die Grenzen geschlossen waren. Deshalb konnte ich erst später die Kathedralen von Chartres und Reims besuchen.

Die Kathedrale von Reims hat eine besondere Bedeutung für Sie, richtig?

Ja. Als ich den Auftrag erhielt, erfuhr ich, dass es in der Alkmaarer Kirche früher farbige Fenster gab, die aber nach der Reformation herausgenommen und versteigert wurden. Ich fand die Idee sehr interessant, dass Scheiben dieser Fenster nun
in ganz Europa verstreut sind. Meine erste Idee war, das Fenster aus recyceltem Glas herzustellen. Ich lernte jedoch schnell, dass recyceltes Glas von viel geringerer Qualität ist als handgefertigtes. Und plötzlich erinnerte ich mich an meine Kindheit, als ich mit einem großen alten Kaleidoskop gespielt habe. Darin befanden sich bunte Scherben aus zerbrochenem Glas. Es stammte vom Bruder meiner Großmutter, der während des Ersten Weltkriegs in Ägypten gekämpft hat. Nach dem Abzug kam er auf der Durchreise nach Reims. Er fand die bunten Glasscherben auf dem Boden vor der Kathedrale, hob sie auf und nahm sie mit nach Australien, wo er gelebt hat. Zuhause machte er ein Kaleidoskop daraus. Das war meine Hauptinspiration für das Thema des 450-jährigen Jubiläums: das Licht der Freiheit.

Freiheit – ein schönes Thema!

Ehrlich gesagt, war ich anfangs nicht so begeistert davon. Ich hoffe, Sie verstehen mich jetzt nicht falsch. Natürlich ist Freiheit erstmal etwas Positives, ich bin glücklich mit meiner Freiheit. Meine erste Assoziation war aber die niederländische rechtspopulistische Partei PVV, Partei für die Freiheit, die sehr problematische Positionen vertritt. Zudem bin ich kein Fan von der Idee, dass individuelle Freiheit über allem anderen stehen soll. Deshalb finde ich es schön, dass das Fenster durch die finanzielle Unterstützung vieler Alkmaarer, also durch ein Gemeinschaftsgefühl, möglich wurde.

In Ihren Filmen und Fotografien beschäftigen Sie sich immer wieder mit Sammlungen und Archiven. Wieso? 

Mir gefällt, dass Archive und Sammlungen nie fertig und immer irgendwie unordentlich sind. Es herrscht dort eine Art schwebendes Chaos. Das regt meine Kreativität an, und es gibt mir das Gefühl, etwas Interessantes entdecken zu können. Etwas, das ich vorher noch nie gesehen habe.

Eine silhouettierte Person steht vor einem großen, bunten Glasfenster mit geometrischen Mustern in Gelb, Blau und Rot. Die Person scheint eine Hand an das Fenster zu legen und ist von der farbenfrohen Gestaltung umgeben.
Das Kirchenfenster in Alkmaar wurde aus 48.000 Glasstücken in 88 Farben zusammengesetzt.

Sie haben in einem Begleittext zu einer Videoinstallation geschrieben: „Erinnerung ist eine Falte im Gewebe der Zeit.“ Warum ist Zeit ein wichtiges Thema für Sie?

Wenn man mit Bewegtbild arbeitet, also mit Video und Film, kommt man nicht umhin, über Zeit nachzudenken. Ich sehe Zeit sowohl als mein Werkzeug als auch als das Material, das ich zu formen versuche.

„Sind nicht alle Kunstwerke die Schatten von Ideen?“ Auch diese Überlegung stammt von Ihnen.

Ich kam darauf über das Buch „The Art of Memory“ von Frances Yates. Es ist die Übersetzung eines Buches von Giordano Bruno, einem Mönch, der im 16. Jahrhundert lebte. Er schrieb ein Buch mit dem Titel „ De umbris idearum“, was wörtlich übersetzt „Über die Schatten der Ideen“ heißt. Ich fand diese Vorstellung so schön, dass Ideen Schatten haben. Für mich bedeutet das auch: Wir leben im Licht, aber gleichzeitig auch im Schatten. Wir brauchen beides.

Interview: Pia Scheiblhuber