Nora Bossong, 43, sitzt jeden Morgen am Schreibtisch und schreibt: fein gesponnene Romane, scharfsinnige Essays, Gedichte. Ihr Lieblingsjob aber, so die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin, sei Ministrantin. Ein Gespräch über Glauben und grundlegende Fragen - im Leben und in der Literatur.
Sie haben sich einmal als protestantische Katholikin bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Dass ich protestantisch sozialisiert wurde, weil ich in Bremen in einem sehr protestantischen Umfeld aufgewachsen bin. In meiner Grundschule gab es in meinem Jahrgang einen einzigen anderen Katholiken. Dieses Umfeld hat, glaube ich, meinen Wunsch, katholisch zu werden, bestärkt.
Inwiefern?
Mir kommt das Protestantische härter vor als das Katholische. Denn auch, wenn das heutzutage kaum noch jemand macht, gibt es für Katholiken immerhin noch die Möglichkeit der Beichte und der Absolution. Das hat das protestantische Denken dem Gläubigen selbst überlassen. Aber ich glaube, sich selbst zu vergeben, ist mit das Schwerste, was es gibt.
In Ihrem Roman „Schutzzone“ geht es um den Völkermord in Burundi und die Rolle der UN, aber eigentlich um philosophische Fragen wie Lüge, Wahrheit, Schuld. Welche Rolle spielen Glaube und Religion in Ihrem Werk?
Religiöse Themen kommen immer wieder vor. Ich habe zum Beispiel einen Gedichtzyklus über die neun letzten Päpste geschrieben. Was mich umtreibt, ist die Theodizee, also die Frage: Wie kommt das Böse in die Welt? Und wie können wir, wenn wir einen ungeschönten Blick in die Welt werfen, unseren Gottesglauben bewahren? Und mich beschäftigt die Figur des Judas, eigentlich die tragischste Figur überhaupt. Über Jahrhunderte hinweg wurde sie genutzt, um Schuld zu externalisieren, wegzuschieben, mit schlimmen Folgen etwa im christlichen Antijudaismus. In „Schutzzone“ spielt der Milizenführer Aimé mit dieser Figur, indem er sagt: „Wir müssen euer Böses, eure düstere Seite sein, weil ihr euch nicht eingestehen könnt, dass ihr den Judas in euch tragt.“ Ich glaube, das Diabolische liegt in uns, und wir schwanken zwischen dem Bestreben zum Guten und Schlechten.
Manches in diesem Roman klingt ziemlich ernüchternd. Was hält die Hoffnung wach?
Ich glaube, eine gemeinsam gelebte Zuversicht wie in der Berliner Canisius-Gemeinde, in der ich mich zu Hause fühle.
Sind Sie da auch Ministrantin?
Ja, Ministrantin-Sein ist mein Lieblingsjob, ein Kindheitstraum! Habe ich als Kind nicht gemacht, wollte es aber immer. Es ist die Möglichkeit, Messe anders mitzufeiern, näher dran zu sein.
Welche Rolle spielt der Glaube in Ihrem Leben?
Aktuell eine ziemlich große, weil ich durch mein Theologiestudium, das ich letztes Jahr begonnen habe, viel Zeit damit verbringe. Dann Ministrieren und das ZdK (Zentralkomitee der deutschen Katholiken), in dem bin ich ja auch. Vor allem aber gehe ich wöchentlich in die Messe. Ich merke, dass mir das Halt gibt, dass es einen zurückführt zu einer gewissen Demut. Denn wenn man in einem künstlerischen Umfeld lebt, wird Demut nicht besonders groß geschrieben.
Sie waren auch schon kurz vor dem Austritt ...
Ja, im Zuge des Missbrauchskandals. Und ich glaube, man muss sich eingestehen, dass es Phasen der persönlichen „Gottesnacht“ gibt, in denen sich Gott scheinbar zurückgezogen hat und man keine Beziehung mehr spürt – beispielsweise, als ich aus Ruanda zurückgekommen bin. Da war ich 2019 zum 25. Jahrestag des Genozids. Wenn man sich damit konfrontiert, wozu Menschen in der Lage sind und dass dieses „Nie wieder“ eben doch nicht funktioniert, fällt man schon in einen tiefen Zweifel.
Für „Schutzzone“ sind Sie nach Ruanda gereist. Für Ihren neuen Roman „Reichskanzlerplatz“ haben Sie sich zwei Jahre mit Magda Goebbels beschäftigt. Haben Sie eine Vorliebe für schwierige Themen?
Ich glaube, ja. Wenn ich Bücher schreibe, empfinde ich eine gewisse Verantwortung, Fragen zu stellen, die ich für grundlegend für unsere Gesellschaft halte: die Frage nach der deutschen Geschichte und insbesondere danach, wie es so weit kommen konnte. Wie konnte Zivilisation in Barbarei umschlagen? Wobei das nicht das richtige Wort ist. Barbaren sind ja eigentlich nur die Fremden. Und Unmenschlichkeit trifft es auch nicht. Denn die schlimmsten Verbrechen waren ja gerade menschlich, von Menschen gemacht: diese Vorsätzlichkeit, Grausamkeit, die Fähigkeit, im anderen keinen Menschen zu erkennen ... Wie konnte es so weit kommen? Diese Frage müssen wir uns zumuten oder – um in der christlichen Bildsprache zu bleiben – als Wunde offen halten.
Sie sind auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wie viel Reformfähigkeit trauen Sie Kirche zu?
Also, in der Kirchenrechtsvorlesung habe ich gelernt, dass Frauen Staatssekretärin des Heiligen Stuhls werden können. Rein theoretisch sogar Kardinalstaatssekretärin, denn Kardinal ist ein Würdetitel, kein Weiheamt. Wenn man diese Gedankenspiele weiter verfolgt: Was könnten Frauen in der Kirche dann sein? Ich finde, wir sollten uns nicht allein auf das Diakonat für Frauen versteifen. Sind wir zufrieden, wenn wir Diakoninnen sind und wieder eine dienende Aufgabe übernehmen? Ist die Frage nicht eher: Was sind die Positionen, in denen man Einfluss hat? Und ist das nicht auch ein Widerspruch in sich: Machtämter in einer Kirche, die eigentlich eine dienende sein sollte?
Hat Kirche noch die Autorität, Glauben zu vermitteln?
Ja. Aber sie hat sehr viel Vertrauen verspielt, das kommt nicht über Nacht zurück. Ganz katholisch glaube ich, dass es um die Nachfolge Petri geht, dass alles Sakramentale in dieser direkten Verbindung steht. Und ich glaube, dass Tradition und ein gemeinschaftlicher Glaubensfindungsprozess etwas ganz Relevantes ist. Wenn wir das zu sehr individualisieren, gibt es nicht nur eine Beliebigkeit, man sollte sich auch nicht selbst überschätzen. Kirche ist universell. Ich will sie nicht in allem in Schutz nehmen. Aber ich persönlich könnte sie nicht aus meinem Glauben herausrechnen.
Interview: Beatrix Gramlich