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Sind wir eine gespaltene Gesellschaft? Nein, sagt der Soziologe Steffen Mau, 56, von der Humboldt-Universität Berlin. Aber auf manche Themen reagieren Menschen besonders emotional. Das nutzen Populisten, um Stimmung zu machen.

Ein Mann mit Brille und grauem Haar steht in einer unterirdischen Passage. Er trägt einen schwarzen Mantel. Der Hintergrund zeigt eine verschwommene Szenerie mit Bäumen und einer Straße.
Der Soziologe Steffen Mau lehrt an der Humboldt-Universität Berlin. Er erklärt, warum Menschen auf manche Themen besonders emotional reagieren.

2022 haben Sie nach einer großen Studie in Deutschland festgestellt: „Das häufig gezeichnete Bild einer gespaltenen Gesellschaft trifft nicht zu.“ Stimmt das noch? 

Die Erkenntnis stimmt immer noch. Mit Ausnahme des Themas Migration, das hat sich verschärft.  

Triggerpunkte sind Themen wie Genderstern, Lastenräder oder Fahrradwege in Peru. Warum regen sich die  Menschen so darüber auf? 

Wir unterscheiden unterschiedliche Triggerthemen: zum einen Gerechtigkeitsüberzeugungen, wenn Menschen auf  ungleiche Behandlungen reagieren. Beim Thema Migration sind Entgrenzungsbefürchtungen typisch. Die Leute sagen: „Erst kommen ein paar Migranten, und nachher ist es eine ganze Welle, die uns überspült.“ Dann gibt es die Normübertretungen, wenn sehr sichtbar allgemein akzeptierte Verhaltensstandards überschritten werden, etwa „provokantes“ Küssen von Homosexuellen in der U-Bahn. Und das Vierte sind Veränderungszumutungen wie sprachliche Vorgaben. Es kann aber genauso gut das Gebäudeenergiegesetz sein oder das Tempolimit. Bei diesen Themen haben Leute häufig das Gefühl, dass ihre Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird.

Und Parteien lassen sich von diesem Triggern anstecken? 

Manche besetzen bestimmte Themen und versuchen, darüber Publikum oder Wählerstimmen zu gewinnen, weil man weiß, dass Emotionalisierung die Leute erreicht. Die AfD ist so eine typische Triggerpunkt-Partei, Sarah Wagenknecht hat das längere Zeit gemacht, Heidi Reichinnek damit die Linkspartei über zehn Prozent katapultiert.   

Ungleichheitskonflikte sind ja nicht neu oder die Tatsache, dass Gesellschaften sich verändern. Und trotzdem fällt es uns schwer, damit umzugehen.  

Wir haben aktuell viele Veränderungen: Globalisierung, Migration, die Digitalisierung in der Arbeitswelt, geopolitische Konstellationen, die Rückkehr von Kriegen. Das ist eine ganze Menge, was Leute kognitiv, emotional und sozial zu verarbeiten haben. In den 1970er- und 1980er-Jahren haben wir in einer stärker vorhersehbaren Gesellschaft gelebt, die Kontinuität war größer. Jetzt gibt es eine Hyperdynamisierung, das sorgt für Stress.   

Verstehen Sie diese Reaktion? 

Jede Veränderung fällt schwer. Ich spreche gern von Veränderungserschöpfung. Typisch für eine veränderungserschöpfte Gesellschaft ist, dass Leute sagen: „Ich komme nicht mehr mit, das geht mir alles viel zu schnell.“ Sie fühlen sich ohnmächtig. Dann treten sie oft auf die Bremse und sagen: „Ich mache das nicht mehr mit.“

Führt das dazu, dass Leute sich  aus gesellschaftlichen Debatten verabschieden oder radikalisieren? 

Es gibt sicher eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass Leute mit diesem Wandel nicht mitkommen und sich verweigern. Progressive Kräfte sagen: „Du musst dich verändern, um dich auf eine sich ändernde Welt einzustellen.“ Populisten behaupten: „Nicht du musst dich verändern, die Welt muss sich auf deine Bedürfnisse einstellen.“ In einer veränderungserschöpften Gesellschaft trifft Letzteres auf fruchtbaren Boden. Deshalb ist der Umgang mit beschleunigtem sozialen Wandel ein wichtiger gesellschaftlicher Auftrag – auch im Hinblick auf Maßnahmen gegen Rechtsextreme und Rechtspopulisten.

Was hilft gegen diese Veränderungserschöpfung? 

Man muss Menschen Gestaltungsmöglichkeiten geben, damit sie das Gefühl haben, sie sind noch in der Lage, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Denn leider ist vieles, was mit Hoffnung und Zukunft verbunden ist, von reaktionären Kräften aufgesaugt worden. Populisten versprechen, dafür zu sorgen, dass nicht alles schlimmer wird. Deshalb müssen die anderen politischen Akteure den Leuten Möglichkeiten aufzeigen, wie die Gesellschaft besser werden kann. 

Eine weiße Konturzeichnung eines Lastenrads auf einem Gehweg aus grauen Pflastersteinen. Die Zeichnung zeigt das Fahrrad mit einem großen Transportkorb vorne.
Beim Thema „Lastenrad“ reagieren viele Menschen emotional.
Ein Banner mit der Aufschrift "REFUGEES WELCOME" hängt an einem Baum, umgeben von grünen Blättern. Die Botschaft drückt Unterstützung und Gastfreundschaft für Flüchtlinge aus.
Mit dem Slogan „Refugees welcome“ (Flüchtlinge willkommen) haben Helfende Flüchtlinge im Jahr 2015 begrüßt.

Braucht es auch andere gesellschaftliche Akteure? 

Für mich ist der vorpolitische Raum entscheidend, da findet die Einbindung von sehr vielen Menschen statt: in Vereinen, in Kirchen, Gewerkschaften, Sozialverbänden – wo Leute mit ihrer Lebenswirklichkeit anknüpfen können. Das ist ein wirksamer Schutz vor Radikalisierung. Studien zeigen, dass in Betrieben mit vielen Mitbestimmungsmöglichkeiten und starken Gewerkschaften die Neigung, AfD zu wählen, geringer ist.   

Gewerkschaften und Kirchen sind leider nicht mehr stark ... 

Aber sie sind ja nicht vollständig verschwunden! Sie müssen den Menschen etwas anbieten und für politische Bedürfnisse oder für Mitmachinteressen offen sein.

Wir streiten viel. Ist das schlimm? 

Das ist nicht schlimm. Im Konflikt werden Argumente ausgetauscht und Meinungen gebildet. Viele Prozesse der Willensbildung werden erst durch Streit möglich. Auch sozialer Wandel findet nur durch Konflikt statt. Das war so beim Frauenwahlrecht oder der Möglichkeit für nicht-weiße Personen, ihre demokratischen Rechte auszuüben. Aber die Gesellschaft muss Formen finden, damit Streit zu Veränderungen führt. Was nicht gut ist, sind Streitigkeiten, die in Entzweiung münden, sodass wir uns immer fremder werden.   

Müssten wir anders streiten? Vielleicht an anderen Orten? 

Es gibt ja viele öffentliche Veranstaltungen. Aber vielleicht gehen da nur die hin, die auch anderswo aktiv sind. Natürlich wird auch am Arbeitsplatz gestritten! Das ist für viele der wichtigste Sozialzusammenhang. Auch in Vereinen kommen unterschiedliche Leute zusammen. Wir haben den Streit stark in die Medien, vor allem in die sozialen Medien, verlagert. Durch inszenierten Streit, etwa in Talkshows, entsteht eine gefühlte Polarisierung, Menschen werden in zwei Gruppen eingeteilt: für oder gegen Waffenlieferungen, für oder gegen Covid-19-Maßnahmen. Da gehen die vielen Unentschiedenen und „Aber“-Positionen unter. Die allermeisten haben keine extreme Meinung. Sie stehen irgendwo dazwischen. In den sozialen Medien kommt die starke Emotionalisierung dazu. Konflikte schäumen hoch, man findet nicht zusammen.  

Dabei haben alle Sehnsucht nach Verbindendem, oder? 

Die sozialen Medien bringen sicher nicht immer das Beste unserer Persönlichkeit nach vorn! Aber Menschen sind  soziale Wesen. Da geht es um das positive Miteinander, um  Zusammenarbeit, nicht um den Streit bis aufs Messer. Sonst würden sie sich nicht unentwegt zusammentun und gemeinsam Projekte entwickeln. Wir müssen im politischen und im medialen Raum Bereiche schaffen, in denen eine positive Beziehung zu anderen erlebbar wird.

Interview: Christina Brunner