Seit jeher beschäftigt Menschen die Frage, woher das Böse kommt. Anderen die Schuld dafür zu geben, ist bequem, lenkt von eigenen Fehlern ab und grenzt aus. So werden Mitmenschen zu Feinden, Hexen, Sündenböcken. Doch wer sich von Gott geliebt weiß, braucht niemanden zu verteufeln.
Schon das kleine Kind, das sich am Tischbein stößt, sagt: „Der Tisch ist böse.“ Was uns schadet und in die Quere kommt, empfinden wir spontan als ärgerlich und verstörend. Die „normale“ Reaktion darauf ist Abwehr und Wut, auch Rache, mindestens eins zu eins. Wir wollen uns gut sein und Gutes tun – aber die anderen und das andere! Sie stecken sogar in uns selbst, in Gestalt von Bedürfnissen und An-Trieben, die uns „überfallen“ und aus uns herauskommen. Das Fremde und Schädliche ist dann das Böse. Deshalb ist zum Beispiel das Gesetz der Gastfreundschaft eine der ältesten und größten Kulturleistungen der Menschheit: Denn der Fremde ist immer zuerst ein potenzieller Störenfried und Feind, den es abzuwehren gilt; auf seine Ablehnung zu verzichten und ihn als Gast begrüßend „hereinzulassen“, bewahrt und vertieft den Frieden.
Genauso verhält es sich mit uns selbst: Solange ich mir böse bin und zum Beispiel mit meinem Schicksal hadere, lebe ich im Unfrieden mit mir und anderen. Und das tut nicht gut. Zu den gefährlichen und möglicherweise bösen anderen gehören nicht zuletzt die göttlichen Mächte – früher ganz konkret in Gestalt von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, in Missernten und Überschwemmungen, kurz im Unglück und Verhängnis, im „bösen Geschick“. Man meinte diese göttlichen Mächte und Gewalten gut und wohlwollend stimmen zu müssen. Sind sie vielleicht selbst launisch und unberechenbar, also keineswegs immer gut, sondern hinterlistig und böse?
Das Böse ist ein Menschheitsthema, die Auseinandersetzung damit bleibt niemandem erspart. Alle Kulturen und erst recht Religionen setzen sich damit auseinander und haben dafür Deutungs- und Bewältigungsstrategien. Konzentrieren wir uns hier auf den christlichen Glauben. „Erlöse uns von dem Bösen“, bitten die Christen. Die von Jesus verkündete Weltherrschaft Gottes macht den bösen Mächten um uns und in uns ein Ende; in kleiner Münze zeigt Jesus in seinem Verhalten und noch in seinem Sterben wie das geht. Ihm war für immer klar geworden, was die Stunde geschlagen hat: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen“ (Lk 10,18) – also in der himmlischen Ordnung ist der Sieg der göttlichen Liebe schon endgültig, deshalb kann er auf Erden anfangen, die Macht des Bösen zu beseitigen.
Die Evangelien erzählen, dass die Dämonen wie aufgescheucht aus allen Ecken auftauchen, wenn Jesus Gott wirken lässt – und er lässt sie ins Leere laufen. Seine vergebende und teilende Liebe bringt nämlich ans Licht, wo die Güte und das Gute sind und wo noch das Böse herrscht. Und darin offenbart sich der einzig wahre Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse. Und noch etwas kommt dabei ans Licht: Nicht, was von außen herein kommt, macht böse. Also nicht die andern sind schuld; „was aus dem Menschen herauskommt“ (Mk 7,15), ist das Problem. Indem der Mensch – an Gottes richtende und rettende Güte glaubend – Frieden findet, kann er Frieden schaffen und stets den ersten Schritt tun. Was in Jesus Christus geglückt ist, soll in jedem Menschen und in allem glücken: Überwindung des Bösen durch das Gute, bis Gott „alles in allem“ ist. „Und wenn die ganze Schöpfung von der Verderbnis der Sünde und des Todes befreit ist“ (so das vierte Hochgebet der Eucharistiefeier), dann endlich wird alles „sehr gut und sehr schön“ sein, wie von Anfang geplant (vgl. Gen 1).
Zum christlichen Glauben gehört also zweierlei. „Der Christ liebt niemals christlich, wenn er das Böse außer Acht lässt; gerade wegen des Bösen liebt er noch mehr“ (so aus eigener Erfahrung die große Glaubenslehrerin Madeleine Delbrêl). Also genau ins Visier nehmen und nicht naiv sein, aber „widerstehet dem Bösen nicht“ (Mt 5,39), sondern „besiege das Böse durch das Gute“ (Röm 12,21). Das bedeutet jedoch nicht, sich auf das Böse einzulassen. Dann würde man ihm ja schon die Ehre geben und in Gegenabhängigkeiten verheddern – in den Teufelskreisen der Rechthaberei, des Hasses, der Gegengewalt. Nein: der Blick richtet sich christlich immer auf Jesus, der nur Gottes schon definitiven Sieg im Blick hat, und auf Gott, der seinen geliebten Jesus österlich siegen lässt – und alle, die ihm folgen und von seinem heilenden Geist bestimmt sind. Dass das konkret auch harten Kampf bedeutet, zeigen die ersten drei Evangelien ganz bewusst in der Geschichte von der Versuchung Jesu.
Und von diesen Versuchungen ist die Welt voll, im Großen wie im Kleinen. Denn immer noch geht es zu wie bei Adam und Eva, bei Kain und Abel: Immer ist der beziehungsweise die andere schuld, nur nicht ich. Damit ist die Lüge in der Welt („der Lügner von Anbeginn“, sagt heißt es im Johannesevangelium 8,44) und mit der Lüge die Gewalt und das Gesetz sich steigernder Rache (vgl. Gen 4,24). Schon das Gesetz der Blutrache „Aug um Auge, Zahn für Zahn“ ist da ein Fortschritt zur Gewalteindämmung. Aber wie viel Böses steckt, biblisch betrachtet, noch in diesem „Wie du mir so ich dir“ – das „normale“ Leben bestimmt. Und immer ist die Angst, zu kurz kommen, als treibende Kraft dabei! Im Bösen steckt immer die Weigerung, wirklich Mensch zu werden , also auch fehlerhaft und schuldig, angreifbar und der Vergebung bedürftig. Aber statt darum zu bitten, bläst man sich selber auf und will wie Gott sein (oder was man dafür hält). Denn der wahre Gott ist ja Gott sei Dank gerade anders wir – das zeigt Jesus wie keiner.
Eine besonders beliebte Form des Umgangs mit dem Bösen ist es, andere anzuschwärzen und schlecht zu machen, um selbst leuchtend da stehen zu können. Man traut sich nicht, mit den ärgerlich anderen zu sprechen und damit auch auf eigene Schuldanteile zu schauen. Nein, man unterstellt ihnen Böses und verbeißt sich darin. So entsteht die spaltende Redeweise von „den anderen“. So entstehen Feindbilder und Sündenböcke, auf denen man die eigene Angst und Wut (auch über sich selbst) abladen kann. Andere und anderes werden verhext und verteufelt – und das meist „nebenbei“ und unbewusst; man merkt es erst richtig, wenn es fast schon zu spät ist, und die Feindschaft sichtbar wird, bis zum heißen Konflikt und realen Krieg.
In patriarchalen Kulturen werden dann zum Beispiel Frauen zu bösen Hexen, weil die Männer mit ihren eigenen Angst vor der starken Frau und deren „fremder“ Welt nicht fertig werden. Sigmund Freud nannte das männliche Kastrationsangst. Statt sich mit sich selbst als Mann kreativ auseinander zu setzen, Stärken und Schwächen zuzugeben, macht man(n) lieber das andere Geschlecht schlecht (und auch umgekehrt können Frauen kleine Jungen und junge Männer verteufeln und lebenslang beschuldigen!). Auch der andere Stamm, das andere Dorf, die andere Konfession oder Partei kann derart verhext und verteufelt werden – und immer steckt die Angst dahinter, auf gleicher Augenhöhe zu kurz zu kommen oder verloren zu gehen. Man braucht Feindbilder und Opfer, um überleben zu können. Und viele denken leider, auch Gott sei so, dass er Opfer braucht, um versöhnt und ruhig gestellt zu werden. Immer besteht „die Sünde ... darin, sich mit etwas zu identifizieren, das nicht Gott ist“ (Simone Weil III 18). Dann werden Menschen vergöttlicht und „hochgejubelt“ – oder verteufelt und verhext als „Blitzableiter“ und Sündenböcke. Auch Dinge kann man zum Fetisch machen, zum „Heiligtum“, zu Gott – das Geld, das Auto, den Konsum. Und wo etwas Irdisches vergöttlicht wird, ist das Gegenteil nicht weit: die Verteufelung.
Nichts davon in der christlichen Botschaft. Weil Gott allein Gott ist, können wir Mit-Menschen und Mit-Geschöpfe werden. Wir brauchen nicht länger Gott zu spielen. Weil Gott vergebende Liebe ist, können wir um Vergebung bitten und Vergebung schenken – und brauchen weder zu verteufeln noch zu vergöttlichen.
Nun gilt das Gesetz der Entfeindungsliebe. Da sich der Mensch mit seinem Bösen geliebt weiß und sich in solcher Vergebung annehmen lässt, kann er die Angst verlieren und sich auch bedürftig zeigen. Er muss andere nicht länger anschwärzen und im Clinch des „Wie du mir so ich dir“ verhaftet bleiben. Er kann die Teufelskreise aus Neid, Lüge, Gier und Gewalt hinter sich lassen, die die Kirche lange Erbsünde nannte und die man heute besser strukturelle Sünde nennt. Neu erscheint der Mensch so, wie er von Anfang geschaffen ist: als Geschöpf göttlicher Liebe, wirklicher Liebe bedürftig und fähig, hingegeben „für euch und für alle“.
Allerdings zeigt Jesu Weg auch dies: „Das Böse zu erleiden, ist die einzige Möglichkeit, es zu zerstören“ (Simone Weil IV 202). Gewiss sollen wir glaubend auch gegen Böses ankämpfen: Wer dem Schläger die andere Wange hinhält, tut ja aktiv etwas, was den Aggressor irritiert und hoffentlich zur Besinnung bringt. Und in Grenzfällen gibt es sogar Anlass, um einer gerechten Sache willen einen Krieg zu führen. Aber im Prinzip schafft doch nur die selbstlose Bereitschaft, sich und sogar sein Leben hinzugeben, jene Freiheit, die Frieden bringt – jenen Frieden, den die Welt nicht geben kann.
Gotthard Fuchs
Gotthard Fuchs, Jahrgang 1938, ist Priester, war Leiter der Rabanus-Maurus-Akademie und Ordinariatsrat für Kultur, Kirche und Wissenschaft. Seine Schwerpunkte sind Geschichte und Gegenwart christlicher Mystik im neo- und interreligiösen Dialog.