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Oliver Merz

Glaube, Behinderung und Inklusion

Unser Team #strongbymissio widmet sich in einer Reihe auf Social Media gerade dem Thema „Glaube & Behinderung“. Im Zuge dessen ist es ihnen besonders wichtig von behinderten Menschen selbst zu hören, wie sie ihren Glauben leben, welche Erfahrungen sie in der Kirche machen und welchen Blick sie auf die christliche Theologie haben.

Dafür haben sie in zwei Podcasts und auf Instagram mit verschiedenen Menschen gesprochen. Unter anderem führten sie ein Interview mit dem Theologen Oliver Merz, welcher selbst eine Behinderung hat und das Institut Inklusiv gründete, um zu diesem Thema zu forschen und zu arbeiten. Das ganze Interview könnt ihr hier lesen. Die gesamte Themenreihe findet ihr auf Instagram bei @strongbymissio    .

Foto: privat

Was war eine zentrale Erfahrung oder Erkenntnis aus deiner Arbeit, die dein Verständnis von Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Kirche beeinflusst hat?

Mein Zugang zum Thema ist stark biografisch geprägt. Die zentralste Erfahrung ist denn auch mein eigenes Leben. Im Alter von 19 Jahren erkrankte ich an Multipler Sklerose (MS). Ich erlebte in den ersten Jahren schwere Schübe, unter anderem mit starken Lähmungserscheinungen am ganzen Körper, die jeweils über viele Monate andauerten.

Am Ende meines theologischen Grundstudiums musste ich mit einem ärztlichen Attest bestätigen, dass bzw. ob ich für eine pastorale Tätigkeit geeignet und zu verantworten sei. Der weltweit bekannte Experte bestätigte, dass ich als Pfarrer trotz MS am richtigen Ort sei. Daraufhin ließ mich die Kirche zu.

Die mitunter schmerzlichen Erfahrungen gerade auch im kirchlichen Umfeld haben mich nachhaltig geprägt. Ich wollte mehr zu den Zusammenhängen von Theologie, Gesundheit, Krankheit, Heilung, „Nicht-Heilung“, Behinderung, Benachteiligung, Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und vieles mehr wissen. Das führte mich bis zur Doktorarbeit und darüber hinaus.

Bereits in meiner Forschungstätigkeit zu Inklusion, Behinderung und Pfarrberuf stellte ich schnell fest, dass ich mit meiner Erfahrung nicht allein bin. Gerade diese zahlreichen Begegnungen und Freundschaften mit Kolleg/-innen mit chronischen Krankheiten und unterschiedlichen Behinderungen im Pfarrberuf motivieren mich bei meinem Engagement für eine inklusive, aber mindestens inklusivere Kirche.

Was ist Ihrer Meinung nach der wichtigste erste Schritt, den die Kirche bzw. eine Kirchengemeinde ergreifen sollten, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen erfolgreich umzusetzen?

Manche sagen: Inklusion beginnt im Kopf oder gar nicht! Dem würde ich grundsätzlich beipflichten. Meine Meinung dazu ist neben der persönlichen Erfahrung stark von der eigenen (mitunter empirischen-theologischen) Forschung geprägt. Diese besagt, dass differenzierte Überzeugungen zu Krankheit, Behinderung sowie eine einladende, inklusive Atmosphäre und Kirchenkultur die wichtigsten Faktoren zur Förderung der Inklusion von Menschen mit Behinderung sind. Zusammengefasst geht es um viel gelebte Empathie und Sensibilität.

Wo es bereits an der Haltung und an ausgewogenen Überzeugungen zu Behinderung und Inklusion hapert, wäre also der erste, diese zu reflektieren und nötigenfalls zu verändern. Um das zu fördern, können Kirchgemeinden zum Beispiel in Predigten, Gemeindeforen, in Talks mit Menschen mit Behinderung und vielem mehr das Themenfeld aufarbeiten. Gerade die Begegnungen und der ehrliche Austausch mit Menschen mit Behinderung kann vieles in Gang bringen.

Heute leben einige Kirchen bestimmt bereits vorbildlich vor, wie inklusive Gemeinschaft aussehen kann, zu der alle dazugehören und sich nach Möglichkeiten einbringen dürfen, wenn sie das denn möchten. Viele Kirchen fordern die Vielfalt ihrer Mitglieder und die der Menschen in ihrem Umfeld aber stark heraus. Auch das belegen Studien, und das war gemäß den biblischen Berichten schon in der frühen Christenheit so.

Zu den häufigsten Herausforderungen gehören gemäß meiner eigenen Inklusionsforschung Vorbehalte und Vorurteile gegenüber gewissen Einzelpersonen und Gruppen, gefolgt von zu wenig Empathie und Sensibilität für unkonventionelle Lebensumstände oder verkürzte, einseitige Theologie, zum Beispiel unausgewogene Heilungslehren.

Aber auch ganz praktische Dinge erschweren, dass Menschen Zugang zur Kirche und zur Gemeinschaft finden. Zum Beispiel fehlende Rampen für Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator, aber auch für Kinderwagen. Und schließlich fehlt es vielerorts an Willen, Mut, Flexibilität und der Bereitschaft, um mit den Herausforderungen umzugehen und die vorhandenen Hindernisse abzubauen.

Es gibt also noch einiges zu tun!

Ja, auch eine inklusive Kirche wird in ihrer praktischen Umsetzung wohl an Grenzen stoßen. Inklusion fordert uns aber heraus, es uns damit nicht zu einfach zu machen. Forschung und Erfahrung zeigen nämlich, dass Kirchen, wo Wille und Bereitschaft vorhanden sind, häufig einen Weg finden, Barrieren zu beseitigen, aber mindestens zu verringern und Hindernisse zu überwinden. Dafür braucht es meistens einiges an Flexibilität, Kreativität und oftmals auch Mut, etwas zu riskieren und auszuprobieren.

Die Kirche ist aufgrund ihrer theologischen Überzeugungen angehalten, auf das Ziel einer inklusiven Gemeinschaft hin unterwegs zu sein. Dabei geht es letztlich um die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihr Selbstverständnis.

Wo Inklusion nicht oder noch nicht vollumfänglich möglich ist, gilt es am Ideal einer inklusiven Kirche nicht zu zerbrechen. In diesem Fall muss man das Unvollkommene auch einmal auszuhalten können und an der Verheißung Gottes festzuhalten. Eine Kirche, zu der alle dazugehören dürfen, wird immer „Kirche unterwegs“ sein, unvollkommen und unfertig, mit dem letztendlichen Ziel einer wiederhergestellten Schöpfung und Gemeinschaft der Menschen mit Gott am Ende aller Zeiten.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass mehr über Menschen mit Behinderungen geredet wird, als dass man mit ihnen direkt ins Gespräch kommt? Wie könnte man diesem Phänomen entgegenwirken?

Grundsätzlich läuft dazu wohl manches in den Kirchen nicht anders als in der Gesellschaft. Kirchen sind vermutlich oft mehr Kind ihrer Zeit, als ihnen lieb ist. Ein Hauptgrund für dieses Phänomen sehe ich hier wie dort, dass man kaum oder keine persönlichen Beziehungen oder gar Freundschaften zu Menschen mit Behinderung hat. Das hat wiederum auch damit zu tun, dass Menschen mit Behinderung in vielen Kirchen kaum da sind, geschweige denn aktiver Teil der Gemeinschaft sind. Umgekehrt wäre also diesem „Übereinander Reden und Handeln“ am besten damit zu begegnen, dass man sich kennt und miteinander spricht. Wo regelmäßige Begegnungen von Menschen mit und ohne (einschneidende) Behinderung möglich sind und sogar Freundschaften gelebt werden, ergibt sich dann manches quasi von allein.

Wie sehen Sie die Verbindung zwischen Glauben und der Förderung von Inklusion?

Dazu gäbe es in der Tat sehr viel zu sagen. Unfertig und in aller Kürze mal so viel:

Inklusion ist in der Bibel und christlichen Tradition tief verankert, auch wenn wir dort natürlich noch kein ausgereiftes Verständnis von Inklusion im heutigen Sinne vorfinden. Dass es auch bei Inklusion aus christlicher Perspektive zuerst einmal und immer wieder um Beziehung und ein gleichwertiges Miteinander geht, lässt uns schon das Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes erahnen. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist sind in sich selbst eins und zugleich verschieden. Die drei Personen von Gott grenzen sich selbst auch nicht aus.

Gott sei Dank, will man da sagen! Das ist nämlich Programm für uns Menschen. Auch wir Menschen werden in der Bibel und christlichen Tradition nicht nur als einzigartige und eigenständige Wesen mit unantastbarer Würde beschrieben. Wir sind zugleich auf Beziehung, auf Gemeinschaft mit anderen hin angelegt. Dabei sind wir auf die gegenseitige Ergänzung angewiesen!

Wie sich Gott selbst gegen ungerechte, exklusive Umstände und Strukturen stemmt, verlangt er es schon im Alten Testament von den Menschen. Nur ein Beispiel: „Einen Tauben sollst du nicht schmähen, und einem Blinden sollst du kein Hindernis in den Weg legen, sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott“ (Lev 19,14, Zürcher Bibel, 2007). Das ist quasi der Prototyp von Barriere- beziehungsweise Hindernisfreiheit.

Schon Jesus hat gezeigt, dass alle gleichwertig zur Gemeinschaft der Gläubigen dazugehören dürfen, gerade diejenigen, die besonders verletzlich und benachteiligt sind. Jesus demonstrierte, dass und wie durch gelebte Barmherzigkeit das Reich Gottes und seine wiederherstellende Gerechtigkeit erfahrbar werden. Das Heil Gottes kommt anders als besonders von der religiösen Elite erwartet und sogar zu den Menschen, von denen es viele nicht für möglich gehalten hätten. Dass Jesus dafür Reinheitsgebote und andere religiöse Vorschriften beziehungsweise deren unheilvolle Interpretation übertreten hat, um besonders verletzliche, stigmatisierte, benachteiligte und ausgegrenzte Personen (zum Beispiel kranke Menschen, Kinder, Frauen oder Menschen mit Behinderung, Migrationshintergrund oder anderer Glaubenshaltung) in die Gemeinschaft mit Gott einzuladen, unterstreicht und bestätigt die inklusive Absicht der messianischen Sendung.

Es erstaunt aufgrund alledem nicht, dass auch das Miteinander der Christen in der Kirche beziehungsweise die christliche Gemeinschaft (griechisch „Koinonia“) mit pointiert inklusiven Worten beschrieben wird. Besonders deutlich wird dies beim bildhaften Vergleich des Apostels Paulus zwischen der Beschaffenheit des beziehungsweise dem Zusammenspiel im menschlichen Körper und der Gemeinschaft der Christen.

Dass Gemeindeglieder beziehungsweise Menschen grundsätzlich verschieden sind, ist theologisch betrachtet eine gegebene und sinnvolle, bereichernde und mitunter nötige Ergänzung, auch wenn das Miteinander dadurch herausgefordert werden kann (vergleiche zum Beispiel 1 Kor 12,12-27, Eph 4,7-16). Christliche Gemeinschaft ist demnach als dynamische Einheit in aller Vielfalt und Verschiedenheit ihrer einzelnen Glieder zu verstehen. Nicht verschwiegen werden soll allerdings, dass diese geschenkte Vielfalt und Verschiedenheit schon das Miteinander der ersten Christen zum Teil stark herausforderten. Die Bibel berichtet ganz offen darüber.

Fazit: Die christliche Kirche hat also genug und gute Gründe, um sich innerhalb und außerhalb ihrer Mauern für die Inklusion und Teilhabe aller, aber besonders derjenigen einzusetzen, die benachteiligt sind, an den Rand gedrängt oder sogar ausgegrenzt werden. Dass sie dabei durchaus selbstkritisch sein sollte, liegt auf der Hand.

Wie kann bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen auch die Intersektionalität und somit die Inklusion und Ansprache anderer marginalisierter Gruppen wie LGBTQIA berücksichtigt werden?

Zuerst etwas Grundsätzliches: Wer sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Kirche beschäftigt, fällt schnell auf, dass sich die Mechanismen und zugrunde liegenden Probleme anderer Einzelpersonen und Gruppen, die von Benachteiligung und Ausgrenzung gefährdet sind, sehr ähneln. Die Formen an Vorurteilen, Vorbehalten, Stigmatisierungen, Marginalisierungen, Diskriminierungen und dergleichen von queeren Menschen beziehungsweise Personen aus der LGBTQIA+-Community, Menschen mit Behinderung oder einem Migrationshintergrund sind mindestens zu großen Teilen vergleichbar. Zudem wissen wir heute auch, dass eine „Kumulation“ verschiedener Faktoren das Risiko von Benachteiligung und Ausgrenzung erhöhen kann. Eine Person, zum Beispiel mit einer Behinderung lebt, homosexuell ist und einen Migrationshintergrund hat, kann noch stärker mit Vorurteilen, Benachteiligungen und so weiter konfrontiert sein.

Davon lässt sich vieles lernen. Entsprechend können Kirchen zu unterschiedlichen Personen und Gruppen auch ähnliche Prozesse, Schritte und Wege gehen. In meinem eigenen Praxiskonzept, das auf den Daten aus meiner Doktorarbeit basiert, schlage ich für die Umsetzung der Inklusion verschiedener Einzelpersonen und Gruppen folgende Schritte vor:

  • Das Ziel klären, ob die Kirche insgesamt inklusiver werden sollte oder ob es tatsächlich nur um den Einbezug einer bestimmten Person oder Gruppe geht.
  • Die zu erwartenden Herausforderungen möglichst ehrlich und detailliert benennen, und zwar nicht nur diejenigen der zu inkludierenden Person oder Gruppe, sondern auch diejenigen der Kirche selbst.
  • Die vorherrschenden theologischen und weiteren Überzeugungen zur zu inkludierenden Person oder Gruppe reflektieren und nötigenfalls aufarbeiten.
  • Und schließlich: Geeignete Maßnahmen beziehungsweise einen Aktionsplan erarbeiten, umsetzen und regelmäßig, in einem vereinbarten Rhythmus auf die Wirkungsweise hin überprüfen.

Dieses Vorgehen bedeutet für Kirchen in den meisten Fällen eine längere Wegstrecke, die man am besten mit fachkundiger Begleitung in Angriff nimmt.


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