Immer wieder erhebt Papst Franziskus seine Stimme und ruft zu einer Globalisierung der Solidarität und Nächstenliebe auf. In Zeiten von Corona bekommt dieser Appell eine neue Bedeutung. missio steht auch in diesen Zeiten der weltweiten Pandemie in engem Kontakt mit seinen Projektpartnern in Afrika, Asien und Ozeanien, die besonders von der Pandemie betroffen sind. Klaus Vellguth befragte Thomas Vijay SAC zur aktuellen Situation in Indien.
Inwiefern hat die COVID-19-Pandemie das Leben von Ihnen und den Menschen in Ihrer Nachbarschaft verändert?
Die Entscheidung über die Abriegelung des ganzen Landes hat Indien völlig unerwartet getroffen, es war aber auch ein mutiger Schritt der Regierung Modi. Das Gute daran war, dass die Abriegelung lange vor der Ausbreitung des Virus erfolgte. Aber sie traf uns alle in Indien völlig unvorbereitet. Niemand war darauf vorbereitet, und niemand hat die Folgen dieses Schrittes berechnet. Die am schlimmsten betroffenen Menschen waren Millionen von Tagelöhnern aus dem ländlichen Nordindien, von denen eine große Zahl in größten Städten Indiens arbeiteten. Eine große Zahl von ihnen stammt aus den Bundesstaaten Uthar Pradesh, Bihar, Jharkhand, Westbengalen, Assam und Orissa. Der Lockdown bedeutete, dass die Wanderarbeiter über Nacht ihre Lebensgrundlage verloren. Sie alle wollten in ihre Heimat zurückkehren, aber es fuhren keine Züge. So beschlossen Tausende von ihnen, die gesamte Strecke von bis zu 2.000 km zu Fuß zurückzulegen; einige von ihnen starben auf dem Weg. Das Schicksal der Wanderarbeiter zeigt: Die Maßnahmen sind für viele Menschen in Indien schmerzhaft. Aber nur mit diesen massiven Maßnahmen ist es in Indien bislang gelungen, ein Massensterben zu verhindern.
Welche weiteren Auswirkungen der Pandemie sind für Ihr Land in den nächsten Monaten zu erwarten?
Die blühende Wirtschaft wurde durch die Schließung von Geschäften und Tausenden von Industrien und durch die Arbeitslosigkeit von Millionen von Menschen zerschlagen; das Wirtschaftsleben wird in den kommenden Jahren nicht mehr dasselbe sein. Die Regierungen in diesem Land stehen jetzt vor der schwierigen Aufgabe, Wege zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu finden. Es gibt aber auch Hoffnungszeichen. So ist es ermutigend zu beobachten wie in diesen schwierigen Wochen das Beste im Menschen spontan aufblüht. Viele Menschen gehen auf die Straße und beginnen das Leben auf eigene Faust zu organisieren. Sie starten Initiativen, um den Ärmsten der Armen und den in Not geratenen Menschen das Leben zu erleichtern. Spontan stellte sie Nahrung, Unterkunft, Medikamente usw. für gestrandete Reisenden zur Verfügung. Das gilt übrigens für Christen ebenso wie für Nicht-Christen. Alle religiösen Gruppen geben ihr Bestes, um den Bedürftigen zu helfen und ihnen Nahrung, Unterkunft und andere Unterstützung zukommen zu lassen. Trotzdem ist die Zahl der leidenden Menschen groß.
In den kommenden Monaten wird Indien mit zahlreichen neuen Problemen konfrontiert werden. Die Regierung hat rote, orangefarbene und grüne Zonen festgelegt. Rote Zonen sind die Zonen, in denen sich das Virus ausbreitet. Wie kann man die Ausbreitung dieser Zonen eindämmen? Grüne Zonen sind virusfrei; wie kann man sie für ein normales Leben öffnen? Orange Zonen sind Orte der Erholung. Wir befinden uns jetzt in einer Phase des Lockdown, die als erster Schritt zur Entschärfung der Situation angesehen wird. In den kommenden Wochen wird sich zeigen, was dies für Indien bedeutet. Doch als wäre Indien mit Covid-19 nicht genug belastet: In der letzten Woche fielen Heuschrecken aus Westasien in Teilen von Rajasthan, Madhya Pradesh und Maharashtra ein. Sie kamen zu Millionen und fraßen die Ernte und die Pflanzen auf.
Welche Bedeutung hat der christliche Glaube in diesen Zeiten der Pandemie?
Kirchen, Moscheen und Tempel waren in Indien bis Anfang Juni geschlossen. Erst allmählich werden Gottesdienste und religiöse Feiern wieder zugelassen. Eheschließungen, denen in der indischen Gesellschaft eine große Rolle zukommt, können mit polizeilicher Genehmigung in Anwesenheit von weniger als 20 Personen abgehalten werden.
Leiden ist immer dann sinnvoll, wenn es im Glauben angenommen wird. Die Reaktion der Kirche auf die Coronakrise ist im ganzen Land gewaltig. Eine Woche nach der Ausrufung der Abriegelung bat Kardinal Oswald Gracias von Bombay, Präsident der Indischen Bischofskonferenz (CBCI), alle Christen, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, um die Pandemie zu bekämpfen. Gracias merkte an, dass Caritas Indien allein zu diesem Zeitpunkt über 2.000 Anlaufstellen eröffnet habe, um leidende Menschen zu erreichen. Jeder der zigtausend Kleinen Christlichen Gemeinschaften in Indien hat an ihrem eigenen Ort etwas unternommen. Jede Diözese und Pfarrei hat auf ihrer eigenen Ebene etwas organisiert. Auch die katholischen Krankenhäuser und Kliniken haben der Regierung ihre Unterstützung im Kampf gegen COVID-19 angeboten.
Ich glaube, wir können die Corona-Pandemie als einen Ruf Gottes verstehen, uns vollständig zu ihm zu bekehren. Wir müssen unsere Art und Weise, unseren Glauben zu leben, ändern. Es wird nicht ausreichen, nur rituelle Gottesdienste zu feiern, sondern wir müssen darüber hinausgehen, die Werte des Evangeliums wirklich zu leben und Gott zu verherrlichen, nicht uns selbst. Die Regierungen müssen in ihrem Handeln wirklich gerecht sein, und die Gewinnerzielung muss durch Gewinnbeteiligung ersetzt werden, damit die Vision vom Königreich Jesu auf uns zukommt. Anstatt die Industrielobby für deren Profite und politische Gewinne zu unterstützen, müssen die Regierenden sich auf den ärmeren Teil der Gesellschaft konzentrieren. Anstatt Milliarden für die Herstellung von Viren und Kriegswaffen auszugeben, müssen die Nationen den Wunsch haben, diese für die Förderung von Frieden und Entwicklung auszugeben. Der Evangeliumsauftrag der Kirche beauftragt uns, uns offen gegen eine solche Verschwendung von Humanressourcen für rein zerstörerische Zwecke auszusprechen. COVID-19 zwingt uns, umzukehren und Dinge zu tun, die wir lange Zeit nicht praktizierten, wie z.B. unsere Ressourcen mit den armen und leidenden Massen zu teilen, zu Hause zu bleiben, um Zeit mit denen zu verbringen, die in unserem Leben wirklich wichtig sind, Beziehungen zu pflegen, zu akzeptieren, dass Sünde zu unserem Tod führt. Auch wurden wir ermutigt, den wahren Gott zu finden und von Menschen geschaffene neue Götter wie Reichtum und Vergnügen aufzugeben und uns der unsterblichen Lehre Gottes zuzuwenden, die uns am Erbe der Heiligen teilhaben lassen kann (Apg 20,32). Die Kirche muss zu ihren Wurzeln zurückkehren und eine neue Art des christlichen Glaubens finden, in deren Zentrum die persönliche Begegnung mit Christus steht.
Thomas Vijay SAC lebt in Indien und ist Mitglied des von missio initiierten Netzwerk Pastoral Asien. Das Netzwerk ist ein Zusammenschluss der Direktorinnen und Direktoren zahlreicher asiatischer Pastoralinstitute. Nähere Informationen zum Netzwerk Pastoral Asien finden sie hier .
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